10.03.2013

Hoi

Von Ruth Gundacker 
Er kommt nachts. Setzt sich auf mein Kissen und atmet mir ins Ohr, bis ich erwache.

Dann lieg ich still. Er rutscht näher und durch die geschlossenen Lider seh ich seinen Atem. Liebend gern verzichtete ich auf seine Visiten. "Hoi", sagte ich kürzlich. Es muss um halb zwei am Morgen gewesen sein. Ein Dienstag. Und als wär mir da ein Zauberwort entschlüpft, blinzelte der Alb und rückte einen Zentimeter weg von mir. Dann war alles wie immer. Er stieg in mein linkes Ohr, strich an meiner Ohrmuschel vorbei, durchschritt eilig den Gehörgang, überwand das Trommelfell - der obligatorische Tritt fehlte auch dienstags nie -, stiess sich vom vorderen Steigbügelschenkel ab und rutschte durch die fenestra rotunda über die Paukentreppe in die Schnecke. Dort blieb er einen kurzen Moment stehen, holte Luft, polterte dann eine Runde durch den Raum, sprang schliesslich wieder zurück in die Paukenhöhle, wippte kurz am Hammerstiel, stiess sich endlich mit einem Schrei ab, kugelte durch die Ohrtrompete und landete fett auf dem hinteren Teil meiner Zunge. Ich öffnete den Mund und spuckte ihn aus. Da sass er auf meiner Brust und starrte mich an. Ganz nass von seinem Ausflug. "Hoi!" Er zuckte zusammen und wurde blass. "Hoi. Hoi! Hoi!!!" Bei jedem Hoi erblasste mein Alb ein kleines bisschen mehr, wurde erst weiss, dann grau, dann durchsichtig und hinterliess am Ende nichts als einen feuchten Fleck auf meiner Bettdecke. Seitdem begrüsse ich jeden neuen Alb mit einem fröhlichen Hoi! Ihre Besuche werden immer seltener.
Es gibt Tage, da sehne ich mich nach einer Nacht mit Alb im Ohr.

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