25.03.2014

Töchter

Von Godi Huber
Markus Wetter blättert in der Fotogalerie seines Handys. Vorwärts, rückwärts, vorwärts. Der Daumen gleitet geschickt über das kleine Gerät. Der junge Mann hat seine dunklen Haare modisch aufgekämmt, ist sportlich gekleidet.

"Da ist sie!". Mit einem Lächeln zeigt er die Fotos seiner Sitznachbarin. Diese beugt sich interessiert über das Handy.
Draussen huscht die Landschaft vorbei. Es ist jeden Morgen die gleiche Landschaft. Einmal im Nebel verhüllt, ein andermal von der Sonne beleuchtet. Diesmal klatscht Regen an die Fenster, während der Intercity dem Ziel entgegen rast. Die Menschen sitzen dicht gedrängt im Wagen, die meisten übel gelaunt in die Gratiszeitung starrend.
Nur Markus Wetter blickt dem Tag fröhlich entgegen. "Sie heisst Joel", erzählt er seiner Sitznachbarin. "Unsere Tochter wurde in der Nacht auf Sonntag geboren. Sie ist gesund. Wir sind sehr glücklich." "Oh ja, die Kleine sieht süss aus!", sagt die Sitznachbarin.

Die jungen Leute im Abteil neben Markus Wetter sind mit sich selber beschäftigt. Lässig hängen sie in den Bänken. Cool sind sie gekleidet. Am coolsten gibt sich Tanja. Die Haare violett gefärbt, grobe Nägel im Gesicht, Tätowierungen an den nackten Armen. Wenn sie spricht, schweigen die anderen. Tanja, die Anführerin der Intercity-Gang, teilt kräftig aus: Der Mathematiklehrer, eine Null. Die Mutter, zum Abgewöhnen. Das Wochenende, im Alkohol ersoffen.
Dann klaubt Tanja ihr Handy hervor. "Mist, kein Saft mehr!" Das Ladegerät habe sie bei Vater liegen gelassen. Und der nächste Besuch, ausgehandelt im Scheidungskrieg der Eltern, sei erst wieder in zwei Wochen möglich.
Der Zugführer kontrolliert die Billette. Die nette Stimme im Lautsprecher macht eine Ansage. Es wird für einen Augenblick ruhig im Abteil. Da sagt Tanja: "Ich habe immer einen Pullover von Vater bei mir. Zu Hause habe ich auch einen Pullover von ihm. Ich vermisse Dad sehr."

Alice Brunner sitzt ein Abteil hinter Tanja. Der Blick der nicht mehr jungen aber auch nicht alten Frau geht durch das Fenster in die Ferne. Als ob es ganz weit draussen in den Bergen etwas Besonderes zu sehen gäbe. Doch da ist nichts.
Alice Brunner rückt den feuchten Mantel zurecht. Die Gedanken sind bei Vater. Die Leiterin des Pflegeheims hat gestern am späten Abend angerufen. Der Gesundheitszustand habe sich noch einmal verschlechtert.
Die Fahrt des Intercity verlangsamt sich. Alice Brunner hofft, dass es noch nicht zu spät ist. Wie nimmt eine Tochter von ihrem Vater Abschied, mit dem sie ein halbes Jahrhundert eng verbunden war?
Sie erinnert sich, wie sie als junge Frau im Zorn von zu Hause weggegangen war. Sie sieht den Vater, traurig am Bahnhof zurückgelassen. Seine dunklen Augen lachten erst wieder, als sie sich Monate später in die Arme schliessen konnten.
Was werden ihr die Augen des Vaters heute sagen?

Der Intercity steht.
Markus Wetter drängt dem Ausgang entgegen.
Tanja hängt sich fluchend die Tasche um.
Alice Brunner lässt den anderen den Vortritt.

Wasser rinnt über die Fenster.
Alles verwischt.


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