30.12.2012

Der Skispringer im Sonntagsanzug


Wir wünschen den Leserinnen und Lesern dieses Blog mit "Dem Skispringer im Sonntagsanzug - Gedanken zu einer Fotografie" einen guten Flug in ein neues Jahr mit vielen schönen Augenblicken, Gedanken und Geschichten.

Von Godi Huber
Innsbruck am 1. Jänner 1958: Die besten Skispringer der Welt standen auf der Bergisel-Schanze, kämpften um den Sieg in der prestigeträchtigen Vierschanzentournee, angefeuert von einem begeisterten Publikum. Kaiserwetter, leichter Nordwind, ein sich abzeichnender neuer Schanzenrekord und süsser Jägertee liessen die Stimmung im zweiten Durchgang hochkochen.


Die Springer duckten sich weit oben in die steile Anlaufbahn, glitten in die Tiefe, sprangen auf dem Schanzentisch ins Leere und segelten an den Köpfen des Publikums vorbei hinunter in das kesselförmige Stadion; setzten die Skier elegant auf die gebogene Landebahn, rissen triumphierend die Hände in die Höhe, liessen sich von den schreienden Fans feiern.

Was das Publikum nicht sah: Am Bergisel flog die Angst mit. Keine andere Schanze war zu dieser Zeit so nah an der Stadt gebaut. Wohin die Springer den Blick auch richteten, am Schluss fixierten sie mit starren Augen den grossen Stadtfriedhof, der unmittelbar nach der Landebahn seinen Anfang nahm.

Mit Startnummer 37 ging der Finne Pekka Hautamäki an den Start. Ein Springer mit konstant guten Leistungen, der es aber noch nie bis aufs Podest geschafft hatte. Ein Grund für den fehlenden Exploit dürfte gewesen sein, dass Hautamäki anders als seine Konkurrenten auf den hautengen Sportanzug verzichtete. Er flog am liebsten im schwarzen Sonntagsanzug. Der im Wind heftig flatternde rote Schal, die weisse Skimütze und eine modische Sonnenbrille machten ihn zusätzlich zum Liebling des weiblichen Publikums. Die modischen Accessoires wirkten sich aber im Flug leistungsbremsend aus. Bekannt war Hautamäki ausserdem dafür, dass er wenig sagte und nur selten Interviews gab.

Doch an diesem 1. Jänner 1958 war vieles anders: Pekka Hautamäki sprang entschlossener als alle anderen in die eisige Spur, duckte sich im Anlauf so tief wie nie zuvor, streckte sich auf dem Schanzentisch wie ein Adler und segelte fast senkrecht in den Gegenwind. Das Publikum hielt den Atem an, als der Springer auch dort noch an Höhe gewann, wo andere längst die Arme für die Landung ausbreiteten.

Pekka Hautamäki segelte in grosser Höhe über den Friedhof und die Inntal Autobahn, gewann über der Stadt Innsbruck weiter an Höhe, flog direkt auf die Nordkette der schneebedeckten Tiroler Berge zu. Der schwarze Anzug und der rote Schal wurden immer kleiner, verschwanden nach wenigen Minuten ganz aus dem Blickfeld des staunenden Publikums. Die Kampfrichter notierten entzückt die Maximalnote 10.

Hautamäki muss danach leicht nach Westen abgedreht haben, über Hügel, Wälder und Berge geflogen sein. Er überflog wenig später auf rund 1500 Meter über Meer die Grenze nach Deutschland. Der letzte Mensch, der den Skispringer an diesem Tag sah, war eine Skitourengängerin oberhalb von Garmisch Partenkirchen.

Zuerst habe sie ein Pfeifen gehört, dann ein Rauschen, sagte die Frau am nächsten Tag gegenüber Journalisten. Am Himmel habe sie einen riesigen Vogel entdeckt, der mit grosser Geschwindigkeit auf sie zugeflogen sei. Sie habe den Fotoapparat in Position gebracht und mehrmals abgedrückt. Dann habe sie einen Skispringer in perfekter Haltung und schwarzem Anzug erkannt; ein roter Schal habe zudem heftig im Wind geflattert. Das Gesicht des Skispringers habe konzentriert gewirkt, sogar ein Lächeln in den Mundwinkeln habe sie entdeckt, sagte die Skitourengängerin. Sie belegte die Begegnung mit einer Fotografie von erstaunlich guter Qualität.

Die Geschichte vom entflogenen Neujahrsskispringer und die Fotografie wurden in den nächsten Tagen in vielen Zeitungen gedruckt. Mit jedem Tag, der neue Schlagzeilen brachte, geriet die Geschichte jedoch stärker in Vergessenheit. Erst sechs Monate später kehrte das Ereignis als Notiz in die Medien zurück. Nomaden hätten in der Wüste von Marokko einen halb verdursteten Mann gefunden. Ungewöhnlich sei gewesen, dass der Mann einen westlichen Sonntagsanzug, einen roten Schal und eine weisse Skimütze getragen habe. Der Mann habe gegenüber den Hirten gesagt, dass er als Skispringer längere Zeit in der Luft unterwegs gewesen sei, über der Sahara in einen fürchterlichen Sandsturm geraten sei und deshalb habe notlanden müssen.

Im einzigen Interview, das er nach seinem ungewöhnlichen Flug gab, sagte Pekka Hautamäki: "Ich glaubte am Start so fest an mich, wie ich das nie zuvor getan hatte. Und im Anlauf sagte ich zu mir: Ich will nicht gewinnen, ich will wie ein Vogel fliegen."




1 Kommentar:

  1. Wunderbar wie Pekka fliegt und weiter fliegt und noch weiter fliegt und - schade, dass er landen muss!

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