25.07.2011

Im Nachtzug

Von Godi Huber
Neulich im Bahnhof. Kurz vor Mitternacht. Herr H wartet auf die Abfahrt des Intercity. Lesen. Dösen. Eine Frau setzt sich ins gleiche Abteil. Engelshaare. Dunkle Augen. Freundliches Gesicht. Diskrete Blicke.

Das Buch habe sie auch gelesen, sagt sie. „Eine schöne Geschichte“, nickt H. „Und ein tragisches Ende“, meint sie. Schweigen. Sie streicht die Engelshaare aus dem Gesicht. Blicke aus dem Fenster. „Nachtzug Firenze“ steht auf dem Zettel am Zug nebenan geschrieben. „Ich war schon lange nicht mehr in einem Nachtzug“, seufzt die Frau. „Florenz ist eine schöne Stadt“, sagt Herr H. „Dann fahren wir doch diese Nacht hin“, sagen beide.

Umsteigen. Abfahren. Der Zug rollt durch die Nacht. Reden. Lachen. Schweigen. Lesen. Schlafen. Erwachen. Der Nachtzug fährt in den Tag. Flüsse. Seen. Landschaften. Sonne. Süden. Ferien. Ankommen. Aussteigen. Bummeln durch die Altstadt. Vorbei an Kirchen und Palästen. Cafe trinken. Essen. Einkaufen. Reden. Lachen. Wein trinken. Streiten. Zur Strassenmusik tanzen. Salento Senzo Tempo. Die Engelshaare fliegen in den wolkenlosen Himmel. Die dunkeln Augen leuchten. Drehen im Kreis. Sanfte Berührungen. Umarmen.

Der SBB-Kontrolleur schüttelt Herr H. „Der Zug befindet sich am Endbahnhof“, hört er aus der Ferne. „Sie sind wohl eingeschlafen. Ich bitte Sie höflich, auszusteigen!“


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