02.03.2013

Siddharta auf Abwegen

Von Tina Uhlmann 
Sid war gerade im Begriff, ein Romanheld zu werden, als er mit dem Skateboard über das zugespitzte Ende des Kapitels hinausschlitterte, abstürzte und unsanft in dieser Geschichte landete. Einen Schwindelmoment lang blieb er auf dem Kopfsteinpflaster liegen, sah Sterne und Sternbilder, ja ganze Galaxien werden und vergehen. Dann fiel ein Schatten auf sein Gesicht, und er öffnete die Augen. Vor ihm stand ein älterer Mann im Regenmantel und streckte ihm die Hand hin. 

„Polizei“, schoss es Sid durch den Kopf, er war sofort hellwach, wollte aufspringen und auf dem ramponierten Rollbrett das Weite suchen. Aber sein Körper gehorchte ihm nicht; er fühlte sich an, als hätte jemand sämtliche Knochen vertauscht. Sid stöhnte. Ergeben ergriff er die dargebotene Hand und richtet sich unter Schmerzen auf. 

„Was machst du hier?“ fragte der Freund und Helfer.
„Keine Ahnung“, antwortete Sid wahrheitsgemäss. Er sah sich um. Die Strasse war bevölkert von Leuten, die täuschend echt wirkten. Sie alle schienen derart in ihre eigenen Handlungen verstrickt, dass sie ihn kaum bemerkten. War dies das wirkliche Leben?

„Ja? Hier Peretti!“ Der Mann im Regenmantel hatte Sids Hand losgelassen und hielt sich ein Mobiltelefon aus der Ära vor 2.0 ans Ohr. „Verschwunden?“ Seine Miene verfinsterte sich, er sah auf die Uhr. „Mhm. Mhm.“ Sid stand auf, so gut es ging, humpelte ein paar Schritte und wollte sich unauffällig aus dem Staub machen. Doch der Mann, noch immer am Telefon, bemerkte es und kam ihm nach. „Ja... ja, ist gut. Ich komme sofort.“

Als Peretti seinen Schützling sanft, aber bestimmt am Arm fasste und zu einem zivil getarnten Dienstwagen führte, landeten mit mächtigem Rauschen sieben Schwäne vor ihren Füssen. Sid traute seinen Augen kaum – und noch weniger seinen Ohren, als der Prächtigste sich aufplusterte und schnarrend nach dem Weg zu Rapunzels Turm fragte. „Dies ist ein Blog für Kurz- und Kürzestgeschichten“, knurrte Peretti und scheuchte die Tiere weg. „Märchen haben hier nichts verloren!“

Jetzt schwante Sid Böses. Würde der Mann kurzen Prozess mit ihm machen? „Wo fahren wir hin?“, fragte er bang, während Peretti entschieden zuviel Gas gab und sie nur so übers Kopfsteinpflaster flogen.
„Zum Fluss.“
„Zum Fluss?“
„Mach dir keine Sorgen, Junge. Ich weiss schon, wo du hingehörst.“
Sid schnaubte verzweifelt. Nicht noch einmal in den Jugendknast!
Peretti sah ihn von der Seite an und grinste. „Hast du etwas ausgefressen?“
„Nein, Mann. Warum?“
„Weil du abgehauen bist.“
„Bin ich nicht.“ Sid wusste: Der Typ glaubte ihm so oder so nicht. Noch nie, seit er in seinem Roman auf der schiefen Bahn war, hatte ihm ein Polizist geglaubt.

Der Fluss lag grün wie ein smaragdenes Schmuckband in seinem Bett. Erst als sie auf einem abschüssigen Weg zum Ufer hinuntergestiegen waren, bemerkte Sid die beträchtliche Fliessgeschwindigkeit. Fasziniert blickte er ins Wasser, dessen Oberfläche von feinen Wirbeln gekräuselt wurde. Er hatte das Gefühl, diesen Moment schon einmal erlebt zu haben, irgendwann, in einem anderen Buch.

„Wo bleibt sie nur?“ murrte Peretti und spähte angestrengt ans andere Ufer hinüber, wo eine Fähre verwaist am Steg lag.
„Wer?“
Peretti gab keine Antwort. Besorgt schaute er auf die Uhr – längst sollte er in seiner eigenen Geschichte zurück sein und Frau Huber, seine Lieblingsnachbarin, abholen. Sie wollten ins Kino.
„Siddharta!“
Sid horchte auf. Diese Stimme, hell und klar – woher kannte er die?
„Sid!“
Drüben am anderen Ufer stand eine Frau in geblümtem Sommerkleid, die Laptop-Tasche geschultert, und winkte aufgeregt.
„Da ist sie ja“, brummte Peretti, „deine Autorin!“
Die Frau hatte inzwischen die Fähre losgemacht und trieb langsam auf sie zu.
„Na los, worauf wartest du noch?“ Peretti gab Sid einen Schubs und wandte sich zum Gehen.
„Und wenn ich lieber hier bleiben möchte?“ Sid bot all seinen Charme auf: „Bei Ihnen?“
Der alte Polizist wandte sich um: „Blödsinn. Dort drüben warten noch jede Menge Abenteuer auf dich.“ Er wies zum andern Flussufer, das schon im Dämmerlicht lag. „Willst du dich etwa drücken?“
Sid schüttelte den Kopf.
„Gut. Und was wirst du im nächsten Kapitel als erstes tun?“
Der Junge beugte sich über sein Skateboard: „Die Schrauben anziehen!“ 
Dann nahm er Anlauf, als ob er nie verletzt gewesen wäre, und sprang mit einem Satz in die Fähre, die kurz schlingerte und alsbald in der hereinbrechenden Nacht verschwand.

1 Kommentar:

  1. So eine schöne Geschichte! Eine richtige Tina-Geschichte! Und nun mach ich mich auf die Suche nach meiner Autorin... Katrenka

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