28.01.2012

Gemeinsam allein

Von Godi Huber

ER schöpft mit zitternder Hand die Härdöpfusuppe. Das Alter hat die Hände unsicher gemacht, aber heute ist auch Nervosität im Spiel. Hat er auf diesen Augenblick nicht lange gewartet?

   Seit 32 Jahren lebt er Tür an Tür mit dieser Frau. Sie haben sich im Treppenhaus stets freundlich gegrüsst. So, wie es in diesem Quartier, in dieser Stadt alle machen. Sie schien das Leben zu geniessen. Schön, schnell und irgendwie unerreichbar war sie durchs Treppenhaus geflogen, wie ein Engel von einem anderen Planeten. Darum hatte er nie gewagt, sie zum Essen oder ins Kino einzuladen. Obschon er das, vom ersten Tag an, sehr gerne getan hätte. 
   SIE bedankt sich für die Einladung. Der Kurzschluss habe ihre Wohnung zur finsteren und kalten Höhle gemacht. Da tue ein wenig Abwechslung gut. Etwas zittrig sei er geworden, denkt sie. Doch er habe sich gut gehalten. Sei immer ein freundlicher Nachbar gewesen. Und auf seine Art auch attraktiv, was sie aber lange übersehen habe. Mit der Suche nach dem grossen Glück sei sie zu beschäftigt gewesen, denkt sie beim Essen der dicken, gut gewürzten Suppe.
   Als Hauptgang serviert ER die Resten der Weihnachtsgans. Das Essen vom Heiligen Abend reiche heute bis Neujahr, sagt er. Und er fragt, ob sie zufrieden sei, wie ihr Leben gelaufen ist? Er lauscht der Antwort, die nicht kurz ausfällt. Er lernt am Neujahrstag, beim Essen der Weihnachtsgans, eine nachdenkliche, belesene und humorvolle Frau kennen.
   Zum Dessert gibt es Schoggicrème. Selber zubereitet, wie ER nicht ohne Stolz sagt. Dann entschuldigt er sich für einen Augenblick. Kehrt mit einem Strauss dunkelroten Rosen aus der Küche zurück. Sie ist überrascht, entzückt und errötet ein wenig. Unerwartet ist ein Rätsel gelöst. In den vergangenen 25 Jahren hat sie immer in den Weihnachtstagen einen Strauss dunkelrote Rosen erhalten, Absender unbekannt.
   Beim Kaffee holt SIE ein Päckchen aus der Tasche. Er löst die Schnur, entfernt mit zitternden Händen das Geschenkpapier. Zum Vorschein kommen seine Lieblingspralinen. Auch er ist überrascht. Es sind die gleichen Pralinen, die ihm eine unbekannte Absenderin seit vielen Jahren zum Jahreswechsel in den Briefkasten legt.

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