22.09.2012

Jonny

Von Godi Huber

"Warum hast du Bergkäse auf das Grab gelegt?" fragt er. Wir sitzen in der Gartenwirtschaft, den Blick auf die Kirche und den Friedhof daneben gerichtet. Der Wind streicht durch die Bäume, trägt die ersten gelben Blätter fort. In wenigen Tagen wird der Herbst im Tal ankommen. "Warum endet ein Menschenleben mit 23 Jahren?" frage ich.
  Der Dorfpfarrer klaubt eine Zigarette hervor und schweigt. Ich versuche gegen das Schweigen anzureden. Vor einem halben Jahr bin ich Jonny erstmals begegnet, einem schmächtigen jungen Mann mit blondem Haar, blauen Augen und Pickeln im Gesicht. Ein Gelegenheitsarbeiter, Kleinkrimineller und Tagedieb war er, wie mir schien. Doch wir hatten Spass, auch in dieser Gartenwirtschaft, wenn wir mit den jungen Frauen aus dem Dorf lachten oder zusammen um die Wette tranken.
   Jonny hiess eigentlich Johann, wie ich nebenbei erfahren hatte. Er kam von hier und wirkte trotzdem fremd. Einer, der dazugehören wollte, aber ein Aussenseiter geblieben war. Vor zehn Tagen war Jonny ungewohnt nervös, trank sein Bier hastig, zahlte mit einer Fünfzigernote und sagte, es stimme so, wir seien alle eingeladen. Dann murmelte er, dass es um eine grosse Sache gehe. So gross, dass wir uns dies gar nicht vorstellen könnten. Danach werde er für immer abhauen, sehr weit weg, wo alles anders und besser werde, sagte er. Am Stammtisch lachten alle.
   Wenige Tage später berichtete die Zeitung über einen Banküberfall in der Stadt. Drei junge Männer hätten grosse Beute gemacht. Zwei seien mit mehreren hunderttausend Franken entkommen, den Dritten habe die Polizei niedergeschossen, schrieb die Lokalzeitung auf der Titelseite. Wie ich das gelesen hatte, begann mein Kopf zu schmerzen.
   Am gleichen Tag kam der Anruf aus dem Spital. Johann Aplanalp habe nach mir verlangt. Er sei auf der Intensivstation, die Zeit dränge. Jonny lag mit bleichem Gesicht im Bett, umgeben von Schläuchen und blinkenden Lämpchen. Jonny schwieg, vermutlich konnte er gar nicht sprechen. Ich stand unendlich lange da. Der Schmerz in meinem Kopf wurde heftiger und kroch langsam wie eine Schildkröte nach vorne. Als die Krankenschwester das Zimmer für einen Augenblick verliess, bewegte sich Jonny, griff nach meinen Fingern und drückte mir einen feuchten Zettel in die Hand. Dann schloss Jonny die Augen. Noch am gleichen Abend hörte sein Herz zu schlagen auf.
   Keine Ahnung, woher Jonny den Zettel hatte. Er musste ihn von Anfang an dabei gehabt haben, für den Fall, dass etwas schiefgehen sollte. Der Zettel war das Stück einer zerrissenen Landkarte. Mit krakeliger Schrift waren Zahlen notiert: 611521 / 162908.
   Als Mitarbeiter eines Vermessungsbüros wusste ich, was die Zahlen bedeuteten. Wohin führten mich die Koordinaten? Hatte Jonny eine Schatzkarte in meine Hand gedrückt? Der Kopf wurde heiss, das Herz pumpte. Die Gier nach dem grossen Geld begann die Trauer um Jonny zu verdrängen. Ich musste irre geworden sein.
   Am nächsten Morgen fütterte ich das Navigationssystem im Auto mit den Zahlen und fuhr los. Vor Spiez lenkte mich das GPS in Richtung Simmental, dann nach links ins Diemtigtal, vorbei an Oey, durch eine kurvenreiche Strasse hinauf nach Springebode. Die Strasse wurde zum Strässchen und endete im Nichts. Überall knorrige Bäume, Alpwiesen mit wenig Gras, wucherndes Farn, Steine so gross wie Elefanten, dahinter schwarze Berge. Leichter Nieselregen fiel vom Himmel, Nebelschwaden zogen herauf. Über allem lag Stille. Die Schmerzen im Kopf kehrten zurück.
   Zunächst schemenhaft konnte ich eine Gestalt erkennen, die sich wacklig auf mich zu bewegte. Es war ein alter Mann mit zerbeultem Hut und Kuhmist an den geflickten Kleidern. Seine Augen blickten mich forschend an. "Wer bist du, und was suchst du hier?" fragte der Mann. "Ich komme von der Landesvermessung und muss Referenzpunkte überprüfen", log ich. Diesen Satz hatte ich mir bei der Anfahrt vorsorglich zurechtgelegt.
   Wir gingen zusammen den schmalen Weg hoch, bis zu einer Alphütte, geduckt am steilen Hang stehend, als fürchte sie sich vor einem Unglück, das jeden Augenblick von den schwarzen Bergen herunter donnern könnte.
   "Komm doch herein," sagte der Mann nun freundlicher. In der Hütte war es noch finsterer als draussen. Es roch nach Rauch und Kuhmist, auf dem Tisch standen eine Kanne Kaffee, Brot und Käse. Ich schluckte den wässerigen Kaffee und biss in den Käse. Die Frau des Bauern schwieg. Er redete für beide: "Ich hatte gehofft, dass unser Sohn wieder einmal heraufkommt. Er ist etwa gleich alt wie du, und im Nebel hast du ausgesehen wie er. Es ist ein guter Junge. Doch seit er in der Stadt unten ist, kommt er nur noch selten vorbei."
   Ich ass ein Stück würzigen Bergkäse und dachte nach. Warum hatten mich die Koordinaten von Jonnys Karte an dieses Ende der Welt geführt? Ich wollte die alten Leute rasch wieder verlassen, um die Suche nach Jonnys Geheimnis fortsetzen zu können. Die Frau schnäuzte sich, ihr Blick ging ins Leere. Ich presste meine Hände gegen den schmerzenden Kopf. Nur der Bauer gab keine Ruhe: "Unser Johann wird seinen Weg in der Stadt unten schon machen."
    Als ich den Namen Johann hörte, fühlte es sich an, als ob mir der Boden unter den Füssen weggezogen wurde. Ich sah mich in ein schwarzes Loch stürzen, immer schneller, immer tiefer. Ich hörte aus der Ferne Jonny, wie er lachte. Ich sah ihn am Stammtisch mit der Fünfzigernote zahlen, sah, wie er unbedingt dazugehören wollte, wie ihm die anderen misstrauten. Lämpchen blinkten, Krankenschwestern schwatzten, fiebrige Hände griffen nach mir.
   Als ich die Augen öffnete, war ich immer noch in der finsteren Alphütte. Ich sass da, mit unerträglichen Kopfschmerzen, Kaffee schlürfend und Bergkäse essend. Zwei alten Leuten gegenüber, die nichts in ihrem Leben geschenkt bekommen hatten und gerade deshalb an ihren Johann glaubten. Ich blickte zwei Menschen in die Augen, die keine Wünsche hatten, ausser dass ihr Sohn an diesem Tisch sitzen möge.
   In der Gartenwirtschaft gehen die Lichter aus, Stühle werden gerückt, das Licht auf dem Friedhof erlöscht. Das erste Mal seit Tagen fühle ich mich ein wenig besser. Die letzten Gäste zahlen. "Wie ist die Begegnung in der Alphütte ausgegangen?" fragt der Dorfpfarrer.
   Ich wollte mit Jonnys Eltern über alles reden. Aber ich wusste nicht, was man in einem Moment wie diesem zu sagen hat. Ich trank meine Kaffeetasse leer und ging. Die Frau drückte mir zum Abschied zwei grosse Stück Bergkäse in die Hände. Ihre einzigen Worte während unserer Begegnung krallten sich für immer in meinen schmerzenden Kopf: "Diesen Käse darfst du behalten. Das zweite Stück ist für unseren Johann. Sag ihm, dass er auf sich aufpassen soll."
   Der Pfarrer legt eine Zwanzigernote auf den Tisch und verabschiedet sich. "Morgen fahren wir zusammen in die Berge," sagt er im Hinausgehen.

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