Es war 500 Jahre in der Zukunft. Die Menschen hatten sich aus
Angst vor Felsstürzen, Hochwasser und wilden Tieren in die Städte
zurückgezogen. Umgeben von dicken Mauern und in klimatisierten Häusern, schien
es ihnen an nichts zu fehlen. In der Stadt am Ende eines grünen Tals lebte ein
junger, ungewöhnlich kräftiger Mann. Sie nannten ihn Andrist.
Am Tag lauschte er dem Toben der Stürme, in der Nacht dem Heulen der Wölfe und dem Brüllen der Bären draussen im finsteren Tal. Und immer wieder hing sein Blick am schwarzen Berg. In einer Vollmondnacht kletterte Andrist über die Mauer der Stadt. Ausgerüstet mit dem langen Messer seiner Vorfahren, haute er sich eine Gasse durch den dichten Wald, durchschwamm reissende Bäche, erkletterte spitze Felsen. Der Atem ging heftig, das nasse Haar hing ihm ins Gesicht, seine Hände waren blutig.
Weit hinten im Tal, schon fast beim dunklen Berg, ein schmaler
Pfad, ganz nah am Abgrund. Andrist lehnte an einen Stein, sammelte Kräfte,
schaute in die Tiefe. Da brach es krachend aus dem Dickicht hervor.
Ein Tier, gross wie ein Elefant, wild wie der Löwe, geschmeidig
wie eine Schlange, gierig wie die Hyäne. Eine Überwachungsdrohne aus der Stadt
schlug Alarm, brachte Maschinengewehre in Stellung, verfing sich in den Ästen
der Bäume, flog mit lautem Kreischen in den Abgrund. Andrist stockte der Atem.
Zur Flucht blieben keine Zeit und kein Platz. Also wollte Andrist lieber
schnell sterben als langsam gefressen werden. Mit seinen kräftigen Armen packte
er das riesige Tier, drängte es in den Abgrund. Zusammen stürzten sie in die
Tiefe, immer und immer wieder überschlugen sich die Körper. Das schwere Unwesen
zerschmetterte brüllend am Boden.
Andrist hatte grosses Glück, landete auf dem weichen Körper. Eine
SOS-Drohne begann Sekunden später mit der Reanimation, flog ihn mehr tot als
lebendig in die Stadt. Monate später konnte der Mann wieder gehen und wurde
fortan respektvoll der "Wilde Andrist" genannt. Den gleichen Namen
bekam der dunkle Berg draussen im grünen Tal. Für die Menschen hinter den
dicken Mauern sollte er für immer unerreichbar bleiben.
***
Abgeleitet von der "Geschichte vom
Bärenpfad", Sage aus dem Kiental:
Einst hauste im
hinteren Kiental ein grosser Bär, der unter den Herden viel Schaden anrichtete.
Ein Senn namens Hans Andrist ging eines Tages von Gornern über einen steilen
Pfad ins Tal hinunter. Plötzlich stand das riesige Tier vor ihm. Andrist konnte
nicht ausweichen, denn der Pfad war schmal und der Abgrund tief. Der Senn
dachte, es sei besser, schnell zu sterben, als langsam aufgefressen zu werden.
Er umfasste mit starken Armen den Bären und drängte ihn dem Abgrund zu.
Zusammen stürzten sie in die Tiefe. Der schwere Bär schlug zuerst am Boden auf,
der Senn kam auf ihn zu liegen und wurde so gerettet. Seither heisst dieser Weg
«Bärenpfad». Den tapferen Mann nannte man darauf den «Wilden Andrist», im
Gegensatz zu seinem Bruder, dem «Zahmen Andrist». Ihre Namen leben fort in den
zwei Berggipfeln oberhalb Gornern.
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