15.02.2015

Wilder Andrist


Von Godi Huber
Es war 500 Jahre in der Zukunft. Die Menschen hatten sich aus Angst vor Felsstürzen, Hochwasser und wilden Tieren in die Städte zurückgezogen. Umgeben von dicken Mauern und in klimatisierten Häusern, schien es ihnen an nichts zu fehlen. In der Stadt am Ende eines grünen Tals lebte ein junger, ungewöhnlich kräftiger Mann. Sie nannten ihn Andrist.

Am Tag lauschte er dem Toben der Stürme, in der Nacht dem Heulen der Wölfe und dem Brüllen der Bären draussen im finsteren Tal. Und immer wieder hing sein Blick am schwarzen Berg. In einer Vollmondnacht kletterte Andrist über die Mauer der Stadt. Ausgerüstet mit dem langen Messer seiner Vorfahren, haute er sich eine Gasse durch den dichten Wald, durchschwamm reissende Bäche, erkletterte spitze Felsen. Der Atem ging heftig, das nasse Haar hing ihm ins Gesicht, seine Hände waren blutig.

Weit hinten im Tal, schon fast beim dunklen Berg, ein schmaler Pfad, ganz nah am Abgrund. Andrist lehnte an einen Stein, sammelte Kräfte, schaute in die Tiefe. Da brach es krachend aus dem Dickicht hervor.

Ein Tier, gross wie ein Elefant, wild wie der Löwe, geschmeidig wie eine Schlange, gierig wie die Hyäne. Eine Überwachungsdrohne aus der Stadt schlug Alarm, brachte Maschinengewehre in Stellung, verfing sich in den Ästen der Bäume, flog mit lautem Kreischen in den Abgrund. Andrist stockte der Atem.

Zur Flucht blieben keine Zeit und kein Platz. Also wollte Andrist lieber schnell sterben als langsam gefressen werden. Mit seinen kräftigen Armen packte er das riesige Tier, drängte es in den Abgrund. Zusammen stürzten sie in die Tiefe, immer und immer wieder überschlugen sich die Körper. Das schwere Unwesen zerschmetterte brüllend am Boden.

Andrist hatte grosses Glück, landete auf dem weichen Körper. Eine SOS-Drohne begann Sekunden später mit der Reanimation, flog ihn mehr tot als lebendig in die Stadt. Monate später konnte der Mann wieder gehen und wurde fortan respektvoll der "Wilde Andrist" genannt. Den gleichen Namen bekam der dunkle Berg draussen im grünen Tal. Für die Menschen hinter den dicken Mauern sollte er für immer unerreichbar bleiben.

 ***
Abgeleitet von der "Geschichte vom Bärenpfad", Sage aus dem Kiental:
Einst hauste im hinteren Kiental ein grosser Bär, der unter den Herden viel Schaden anrichtete. Ein Senn namens Hans Andrist ging eines Tages von Gornern über einen steilen Pfad ins Tal hinunter. Plötzlich stand das riesige Tier vor ihm. Andrist konnte nicht ausweichen, denn der Pfad war schmal und der Abgrund tief. Der Senn dachte, es sei besser, schnell zu sterben, als langsam aufgefressen zu werden. Er umfasste mit starken Armen den Bären und drängte ihn dem Abgrund zu. Zusammen stürzten sie in die Tiefe. Der schwere Bär schlug zuerst am Boden auf, der Senn kam auf ihn zu liegen und wurde so gerettet. Seither heisst dieser Weg «Bärenpfad». Den tapferen Mann nannte man darauf den «Wilden Andrist», im Gegensatz zu seinem Bruder, dem «Zahmen Andrist». Ihre Namen leben fort in den zwei Berggipfeln oberhalb Gornern.

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