11.07.2015

Die Frau im Spiegel ...

Von Godi Huber
Die Frau im Spiegel streicht sich die halblangen Haare zurück, bindet sich den dunkelblauen Bikini um und lächelt ein verlegenes Lächeln. Sportlich elegant, und die Grösse passt immer noch; Jean würde sie reizend finden.

Doch Dominique muss Jean nicht mehr gefallen. Er hat sie allein ans Meer fahren lassen und beim kurzen Abschied gesagt, dass er danach nicht mehr da sein werde. Dominique hat Jeans Offenheit immer geschätzt, auch dann, wenn sie weh tat. Als er im letzten Sommer gesagt hatte, dass ihre Brüste neben einem neuen Bikini auch ein Lifting gebrauchen könnten, hatte sie einen Augenblick im Internet nach Kliniken Ausschau gehalten. Jetzt ist die Frau im Spiegel erleichtert, dass sie der natürlichen Festigkeit ihrer Brüste mehr vertraut hat als Jean.

Der dunkelhäutige Mann weiss, dass der Trick fast immer funktioniert. Er balanciert einen Stapel Sonnenbrillen an den dumpf ausgestreckten und nach Sonnencreme riechenden Körpern vorbei, bis er eine nicht mehr ganz junge Frau allein auf ihrem Badetuch entdeckt. Er kniet sich neben der Frau nieder, sagt in gebrochenem Englisch, dass er Jerome heisse, aus Kenia komme; und einen Augenblick später sagt er, mit leiser Stimme, dass sie sehr schöne Augen habe, schöner als die grün, rot und schwarz schimmernden Steine auf dem Grund des Meeres. Danach ist es ein kurzer Weg bis zu seinen Sonnenbrillen, die wie geschaffen für schöne Augen sind. Jerome lügt nicht gern und ist froh, dass alle Frauen Augen haben, die schöner sind als die schimmernden Steine auf dem Grund des Meeres.

Dominique döst an der Sonne, deren Kraft gegen Abend etwas nachgelassen hat. In einer halben Stunde wird sie ihre Sachen zusammenpacken und sich an der Bar ein Glas Weisswein und Crostini mit frischen Tomatenwürfeln gönnen. Aus den Augenwinkeln entdeckt sie den Afrikaner, wie er mit müden Schritten einen riesigen Stapel Sonnenbrillen an den Badegästen vorbei balanciert. Sie weiss, dass er einen harten Tag hatte, und dass er sie als letztes Opfer aussuchen wird. Doch sie wird sich zur Wehr setzen.

Jerome ist froh, am Ende des Tages angelangt zu sein. Die Konkurrenz ist jünger und aggressiver geworden, die Badegäste geizen mit dem Euro, als wäre Wirtschaftskrise. Da entdeckt er am Ende der Bucht eine nicht mehr ganz junge Frau mit halblangen Haaren und einem dunkelblauen Bikini. Er wird noch ein paar Schritte gehen und sich neben dem Badetuch niederknien, der Frau in die dunkel schimmernden Augen schauen und ihr seine schönste Sonnenbrille verkaufen.

Dominique weiss, dass sie die Wut packen wird, sobald der Mann sich über sie beugt. Sie brauche für ihre schönen Augen keine billige Sonnenbrille, wird sie ihm ins Gesicht schreien. Wenn sie etwas nötig habe, dann ein Gespräch von Mensch zu Mensch, einen charmanten Begleiter für den Apéritif und bei Eignung einen Mann für die Nacht.

Jerome bleibt stehen, kniet sich neben dem flauschigen, rot-weiss gestreiften Badetuch nieder, balanciert geschickt den Stapel Sonnenbrillen, sucht mit eingeübtem Lächeln den Blick der Frau.

Dominique will hinaus schreien, was sie sich ausgedacht hat. Da verfängt sich ihr Blick in den Augen des Mannes.

Jerome will sagen, was er in diesen Momenten immer sagt. Doch sein Blick weicht verblüfft zurück, wartet fasziniert, wagt sich neugierig vor, versinkt im schimmernden Schwarz.

Dominique schliesst die Augen, hört Schritte leiser werden und im Rauschen der Wellen untergehen.



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