12.03.2016

Alter Ego

Von Cornelia Bohnet
Wenn ich es zugelassen hätte, mein Alter Ego läge längst im Winterschlaf. Wenn ich mit ihm aus dem Haus will, mache ich es wie eine Bärenmama mit ihrem Jungen: Ich packe es im Nacken und schleppe es hinaus, und es sträubt sich nicht einmal dagegen. Insofern ist das Zusammenleben mit meinem Alter Ego leicht. Es bietet quasi von Berufs wegen keinen Widerstand.


Als ich es vor langer Zeit einmal fragte, ich, die Vernünftige, Zielstrebige, gut Organisierte, was es denn werden wolle, sagte es: Faulpelz. Und mein Alter Ego ist geworden, was es werden wollte: ein Faulpelz. Aber halt, das Werden ist gar nicht des Faulpelz‘ Sache. Das Bleiben, wie man ist, schon eher.

So brummt der Faulpelz manchmal hörbar, wenn ich an einem freien Tag die Badewanne schrubbe, den Boden aufnehme, zwischendurch die Mails beantworte und mit dem Gedanken spiele, die Fenster zu putzen. Er findet es lästig, wenn ich Anrufe erledige, zum Beispiel mit dem Möbelgeschäft telefoniere, um zu erfahren, wann der Sessel geliefert wird, oder wenn ich den Einkaufszettel schreibe. Dann weiss er, dass wir bald wieder aus dem Haus müssen. Übrigens: Beim Wort „Sessel“ hat er aufgeatmet.

Dass ich arbeite, daran hat sich der Faulpelz gewöhnt. Fast möchte ich sagen, er geniesst es, dass er dann ungestört in seiner Ecke liegen kann. Aber wenn wir nach Hause kommen, dann begehrt er auf. „Was? Jetzt willst du noch kochen?“, murrt er. „Du hast doch noch ein Carameljoghurt im Kühlschrank und Schoggigüetzi. Und heute Abend sendet SRF den Spielfilm „Das lange Schlafen“. Das wär doch was. Schau doch mal das Fernsehprogramm an.“ Fast hat er mich schon überzeugt. Er mäkelt weiter. „Und mit Eliane telefonieren willst du auch noch? Und ich? Wann hast du endlich Zeit für mich?“

Manchmal überrascht mich der Faulpelz. So viel redet er selten. Meist spüre ich einfach seine pelzige Gegenwart, seine Anhänglichkeit. Und je mehr ich ihn abschütteln will, desto stärker klammert er sich an mich, wie ein Bärenjunges an seine Mutter. Manchmal meine ich, ich könne ihn mit einem kurzen Kraulen im Nacken besänftigen, aber ein rechter Faulpelz will einen mit Haut und Haar.

Will mit mir stundenlang auf der Wiese liegen und in Himmel und Wald schauen. Wenn ich lese – was er missbilligend zur Kenntnis nimmt und was ich immerhin noch als Tätigkeit einstufen kann –, streicht er mir so lange über die Augenlider, bis ich nicht mehr unterscheiden kann, was ich lese und was in meinem Kopf geschieht.

Diesen kurzen Moment der Bewusstseinstrübung, diesen Augenblick zwischen Wachen und Schlafen nutzt der Faulpelz. Er übernimmt das Zepter und zeigt mir all seine Talente.

Dass die Wolken von wunderbaren Gestalten bewohnt sind.

Dass die Lupinen leise singen.

Dass die Seele am liebsten absichtslos auf einem Segelboot schaukelt.

Dass im Planlosen Glück liegt.

Dann sind wir Freunde, der Faulpelz und ich. 


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