15.01.2015

Anthony

Von Godi Huber
Das Licht des Mondes zwängt sich durch die schräg gestellten Lamellen, schwebt durchs Zimmer, streicht über ein feines Gesicht.

Die Frau schläft, den Kopf tief im weichen Kissen, die dunklen Haare zerzaust, der Atem leicht wie eine Feder.

Das blasse Licht geht weg vom schönen Gesicht, fliesst über die zerknüllte Decke daneben, darunter ein dunkles Etwas.

Lautes Erwachen der Vögel draussen in den Bäumen, erste hastige Schritte auf der Strasse, das Motorrad heult auf.

Träume gehen verloren, verscheucht von Gedanken; Gedanken flüchten, vertrieben von der Geschäftigkeit des Tages.

Der Blick der Frau wird wach, gleitet über das Bett, die zerknüllte Decke, das Buch von gestern Abend, entdeckt das dunkle Etwas.

Die Frau hebt vorsichtig den Kopf, fixiert das andere Ende des Bettes, sieht ein gestreiftes Pyjama.

Aus dem Ärmel ragt eine behaarte Männerhand; Pyjama und Hand hat die Frau noch nie gesehen.

Guten Morgen, wer ist da? fragt die Frau mit leiser Stimme in die Stille; ihr Atem geht jetzt schneller.

Der Pyjama bewegt sich leicht, die Hand zieht sich langsam zurück, danach geschieht vorerst nichts.

Guten Tag, ich heisse Anthony, sagt endlich der Mann, es tut mir leid, dass ich Sie erschrecke.

Ich bin Anna und ich bitte Sie, mein Bett, das Schlafzimmer und diese Wohnung unverzüglich zu verlassen, sonst rufe ich die Polizei!

Ich werde deiner Aufforderung sofort nachkommen Anna; nenne mir aber vorher einen Wunsch, ich will ihn erfüllen.

Oh, auf diesen Trick falle ich nicht herein, du heisst nicht Anthony, und du wirst jetzt gleich abhauen!

Richtig Anna, in Wirklichkeit bin ich der Frosch; werde ich geküsst, verwandle ich mich in einen reichen Börsenmakler.

Der letzte Frosch, den ich in diesem Bett geküsst habe, hat mir Unglück gebracht; ich wünsche mir, dass du jetzt gehst, Anthony.

Du kannst alles Glück dieser Welt haben Anna; aber du hast nur einen Wunsch, willst du wirklich, dass ich jetzt gehe?

Weisst du, was alles Glück dieser Welt ist Anthony? Wenn ja, dann sag mir, wo ich es finden kann.

Eine Million Franken, eine neue Liebe, das ewige Leben, hundert Millionen Franken; sag mir, was du willst Anna, ich schenke es dir.

Ich will mehr als hundert Millionen Franken, mehr als eine neue Liebe, mehr als das ewige Leben; ist das unverschämt, Anthony?

Unverschämt ist, sich auf Kosten anderer zu bereichern, Liebe auszusperren, das Leben nicht zu leben; was willst du, Anna?

Ich wünsche mir, dass du eine Geschichte erzählst; eine Geschichte ohne Anfang und ohne Ende.

Da beschreibt Anthony, wie das Licht des Mondes durch das Zimmer schwebt, über ein feines Gesicht streicht.

Berichtet von einer schlafenden Frau mit dem Kopf tief im weichen Kissen, die Haare zerzaust, der Atem leicht wie eine Feder.

Erzählt vom Licht, das blass das Gesicht der Frau verlässt, über die zerknüllte Decke des Bettes fliesst.

Vom lauten Erwachen der Vögel draussen in den Bäumen, ersten hastigen Schritten, dem aufheulenden Motorrad.

Von einem Traum, der wiederkehrt; sich nicht verscheuchen und in der Geschäftigkeit des Tages auch nicht abschütteln lässt.

In diesem Traum fliege ich als Engel durch das All, sagt Anthony; alte Sterne explodieren, ich werde auf einen kleinen Planeten geschleudert.

Es ist ein Planet, wo Milch und Honig fliessen; wo das Meer blau schimmert und das Kleid der Bäume grün.

Der Planet, auf dem sich die Bewohner am Tag beschenken und lieben; auf dem sich Menschen in der Nacht hassen, foltern und töten.

Die Engel liegen im Schutt einer zerstörten Stadt, von Kugeln niedergestreckt und von rennenden Füssen getreten.

Viele Menschen sind auf der Flucht, vorbei an kaputten Mauern; wenig Hoffnung und die Flügel ihrer Schutzengel im Gepäck.

Engel ohne Flügel können nicht fliegen; ein Engel, der nicht fliegen kann, ist kein Schutzengel, sagt Anthony zu Anna.

Anthony richtet sich auf; Anna sieht jetzt den nackten Oberkörper eines jungen Mannes, zwei vernarbte Flügelstummel.

Ich gehe Zigaretten holen, darf ich zurückkommen Anna? Anthony verlässt leise das Zimmer, die Wohnung, das Haus.

Anna tritt ins blasse Licht am Fenster und wartet.


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