19.05.2013

Der Run

Von Godi Huber 
Als in Alaska die Berge aus der Erde herausgepresst wurden, muss sie geächzt und gestöhnt haben. Als dieser Berg in den Himmel wuchs, hatte die Erde gekracht und gedonnert. Ein steiler Zahn, unverwechselbar, sogar aus der Boeing 747 auf 10 000 Metern Höhe entdeckte er diesen Berg ohne Probleme. Später stand Shane (36) vor der beinahe senkrechten Nordwand. Wie die Haut eines alten Elefanten sieht sie aus; grau, voller Falten, Buckel, Kuppen und Schrunde. Im Sommer sammelt sich hier die Gluthitze der Sonne, lassen Unwetter ihre Blitze explodieren, fressen sich Wassermassen in den Stein. 


Jetzt ist es Winter. Sturmwinde jagen über den Berg. Wolken stauen sich an der Wand. Es regnet Schnee und Eis. Der Berg scheint unter seinem weissen Panzer zu ruhen, lässt fast jeden Tag Lawinen in die Tiefe donnern. Shane weiss, an einen Run ist nicht zu denken. Nicht bei diesem Wetter. Nicht heute. Dabei betet Sean jeden Abend für perfekte Bedingungen. Die Konkurrenz ist ihm auf den Fersen. Er, der König der Tiefschnee-Cowboys, braucht einen langen, schnellen und wilden Ritt auf seinen Skiern. Einen Ride, wie ihn die Welt auf youtube noch nicht gesehen hat. An diesem Berg muss er seine besten Tricks auspacken, wenn er an das Geld des Roten Bullen herankommen will.

Der Rote Bulle ist ein cleverer Geschäftsmann mit viel Geld. Mit dem Geld kauft er sich Einfluss. Den Einfluss nutzt er, um noch mehr Geld zu verdienen. Sein Geschäft sind die Träume der Jungen. Darum braucht er coole Helden, die ihr Leben für ein paar seiner Dollars aufs Spiel setzen. Gar 100 000 Dollars bekommt, wer den geilsten, grossartigsten und gewagtesten Run am gefährlichsten Berg der Welt wagt.

Fünf Tage und fünf Nächte hat sich der Sturm über dem Berg ausgetobt. Jetzt ist der Himmel blau. Katie (18) kneift ihre blauen Augen zusammen, stülpt sich den Helm über die blonden Haare und schiebt die grosse Brille in die Stirn. Wie eine Ritterin steht sie da, im roten Skioverall, bereit zum Kampf um die 100 000 Dollar. Katie ist sehr jung, sehr schön und schon sehr gut. Sie ist unerfahren, ungeduldig und ungestüm. Sie hat keine Vergangenheit, dafür wird ihr die Zukunft gehören.

Katie klebt am fast senkrechten Fels, krallt sich am Eis fest, lässt sich fallen, dreht einen ersten Schwung im tiefen Schnee, einen zweiten, einen dritten, der Schnee rutscht weg, Katie springt ins nächste Couloir, wird immer schneller, fliegt über einen Buckel, dreht sich in der Luft, landet im Fels, springt über Schrunde, tanzt auf Kuppen, droht zu stürzen, landet auf den Füssen, rast in die Tiefe, schneller als die Lawinen, die sie auf ihrem Ritt auslöst. Eine Stunde später geht das Video um die Welt. "Katie ist durchgestartet!", lässt der Bulle auf seiner Webseite verkünden.

Jetzt steht Shane auf dem Berg; kräftig, stolz, ein Lächeln im Gesicht. Er schliesst die Augen, fliegt in Gedanken die Wand hinunter. Dutzende dieser Runs hat er bereits hinter sich. Heute ist er bereit, die Grenze des Machbaren ein weiteres Mal hinauszuschieben. Die Vergangenheit ist nichts wert, wenn der Hero Angst vor der Zukunft hat. Shane öffnet die Augen, krallt die Hände ins Eis, lässt sich in die Tiefe fallen, rast in kurzen Schwüngen durch den Pulverschnee, fliegt über den Fels, überschlägt sich in der Luft, landet auf den Skiern, balanciert übermütig auf den Buckeln, tanzt wild in den engen Couloirs. Noch ist Shane nicht müde geworden. Für ihn scheinen die Gesetze der Schwerkraft nicht zu gelten. Dann ertönt der Schrei, Shane wankt, verliert den Halt, stürzt, überschlägt sich, immer wieder, wird vom Schnee zugeschüttet, taucht auf, rudert verzweifelt mit den Armen, geht unter, wird von den Schneemassen über eine letzte Wand gerissen, fällt in die Tiefe, schlägt auf. Sein verbogener, zusammengekrümmter Körper bleibt reglos am Fuss des Berges liegen.

Das Video geht um die Welt, wird angeklickt, geteilt, gelikt, gepostet, kommentiert; 100 000 000 Mal in 24 Stunden. Der Rote Bulle reibt sich erregt die Hände.

Shane hat gewonnen. Ein letztes Mal.

Die Figuren dieser Geschichte stimmen teilweise mit Personen und Firmen in der Realität überein. Shane McConkey starb 2009 im Zusammenhang mit Werbung für den Limonadenkonzern Red Bull.

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