27.04.2013

Die Leiter am Spiegel im Raum

Eine Leiter am Spiegel in einem leeren Raum - die Fotografie von Chema Madoz (Ohne Titel, 1990) hat diese Geschichte inspiriert.

Von Godi Huber
"Wenn Sie zwei Bedingungen erfüllen, können Sie das Zimmer haben", sagte die Vermieterin in höflichem, aber bestimmten Ton.

"Welche Bedingungen?" fragte ich. 
"Erstens: Die Miete wird pünktlich am ersten Tag im Monat bezahlt. Zweitens: Sie lassen die Gegenstände im Zimmer genau dort, wo sie jetzt sind."

Der Raum war nicht schön und nicht hässlich. Ich war neu in der Stadt und brauchte ein Dach über dem Kopf. Ich sagte sofort zu. Als die Vermieterin weg war, stellte ich die Reisetasche in die Mitte des Zimmers und setzte mich auf den Boden. Der Raum war quadratisch, mit rohem Betonboden, grauen Wänden, einem grossen Fenster und einer winzigen Kochnische. Sonst nichts. Oder doch: An einer der Wände hing ein mächtiger Spiegel, an den Spiegel gelehnt stand eine Leiter.

Meine Tage flogen vorüber: Arbeiten, Schlafen, Arbeiten, Schlafen. Der Raum blieb karg. Ich brauchte nicht mehr als eine Matratze, einen Stuhl, einen kleinen Tisch und einen alten Röhrenradio. An der Wand hing der Spiegel, eingefasst von einem Rahmen aus Kirschbaum, daran angelehnt die Leiter aus gleichem Holz, gerade hoch genug, um ein Buch zuoberst aus dem Bücherregal zu holen, wenn es ein solches Regal im Raum gegeben hätte.

Nach einem Monat erfuhr ich beim Bäcker im Haus gegenüber, dass in diesem Raum lange Zeit Julia und Romeo gewohnt hatten. Ihre richtigen Namen kannte niemand an dieser Strasse. Julia und Romeo wurden sie genannt, weil sie ein Liebespaar waren, als sie vor vielen Jahren das Zimmer bezogen hatten. Romeo war gross und schlank und soll immer ein Lächeln im Gesicht gehabt haben. Julia reichte Romeo bis zu den Schultern, hatte ein hübsches Gesicht und dunkle, kurz geschnittene Haare. In der Quartierbeiz vernahm ich auch, dass Julia und Romeo zwanzig Jahre später immer noch im gleichen Zimmer gelebt hatten. Und es schien für alle hier an der Strasse selbstverständlich zu sein, dass sie in all den Jahren ein Liebespaar geblieben waren.

"Das hat man einfach gespürt", sagte Pedro, den ich in der Quartierbeiz kennengelernt hatte. Er war ab und zu bei den beiden zum Nachtessen eingeladen gewesen. "Wie sie sich angesehen haben, miteinander geredet und geschwiegen haben."

Ich versuchte hinter das Geheimnis von Julia und Romeo zu kommen. Auch der Spiegel und die Leiter liessen mir keine Ruhe. Obschon ich die Gegenstände nicht nutzen konnte und die Leiter ab und zu im Weg stand, liess ich alles so, wie es war. Vor dem Einschlafen hatte ich zunehmend das Gefühl, der Spiegel sei ein Fenster ins Nichts und die Leiter die Treppe ins Nichts.

Pedro schwieg lange Zeit beharrlich. Bis er an einem Abend ein paar Bier zu viel getrunken hatte. "Vor einem Jahr ist mit Julia und Romeo etwas passiert. Alle hier an der Strasse wissen es. Doch niemand spricht darüber."
 

"Ich wohne in diesem Zimmer und möchte mehr erfahren", bettelte ich.
Da begann Pedro zu reden: "Es war im Frühling. An einem der ersten sonnigen Tage. Julia kam am Abend nach Hause. Sie muss fröhlich in den Raum getreten sein. Alles war fast wie immer. Nur Romeo, der jeden Abend mit dem Nachtessen auf Julia wartete, war nicht da. Und die Leiter, die gewöhnlich beim mächtigen Bücherregal stand, lehnte am Spiegel. Julia wartete den ganzen Abend und die ganze Nacht. Julia wartete eine Woche, einen Monat. Nichts geschah."

Pedro schwieg.

Ich bat ihn, weiter zu erzählen.

"Wir waren alle betroffen und traurig. Wir suchten, telefonierten, schrieben Briefe, warteten. Irgendwann ging für uns das Leben weiter. Nur für Julia nicht. Sie sprach nicht mehr. Sie wurde immer seltener gesehen, dann gar nicht mehr. Als die Miete am ersten Tag im Monat nicht bezahlt wurde, ging die Vermieterin nachsehen. Das Zimmer war fast leer. Das einzige, was sie sah, war die Leiter am Spiegel im Raum."

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