10.08.2011

Bettler

Von Godi Huber
Wenn Überwachungskameras Geschichten erzählen könnten, dann vielleicht diese: „Hesch mer a Stutz für öppis z’ Ässe z’choufe“, fragt die junge Frau mit den violetten Haaren und den ungepflegten Kleidern.
   Herr H umklammert seinen Aktenkoffer fester und geht wortlos vorüber. Lässt sich von der Rolltreppe zu den Bahngeleisen hinuntertragen. Schnappt die Gratis-Abendzeitung und fährt nach Hause. Wohlwissend, dass in der reichen Schweiz niemand zu verhungern braucht. So geht H, der als ausserordentlich korrekt und pflichtbewusst gilt, Tag für Tag den Randständigen aus dem Weg. 
   Auch an diesem Freitag Abend ist vorerst alles wie an den vorangehenden Abenden. Ausser, dass H diesmal dem Chef zuliebe noch ein paar zusätzliche Überstunden geschoben hat und sehr spät dran ist. Auf der Rolltreppe erschreckt H. Greift ein erstes Mal in die Hosentasche. Greift ein zweites Mal in den Sack. Das Portemonnaie ist nicht da. In der Eile im Büro vergessen. Kein Bahnabonnement, keine Kreditkarte, kein Geld. Nichts. Der letzte Zug fährt in wenigen Minuten. Und die Bahnhofhalle ist menschenleer. 
   Bis auf eine junge Frau mit violetten Haaren und ungepflegten Kleidern. Sie lächelt und sagt, sie habe heute einen guten Tag gehabt und könne das Geld für die Bahnfahrt ausleihen. Herr H bedankt sich. 
   Von diesem Tag an filmt unsere Überwachungskamera einen Mann in gepflegter Kleidung und mit Aktenkoffer, der den Bettlern in der Stadt hie und da diskret einen Franken in die Hand drückt.

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