24.11.2012

Beim Italiener

Von Godi Huber

Beim Sex am Morgen denkt Noemi bereits an den Abend. "Vergiss nicht, beim Italiener einen Tisch zu reservieren." Dave nickt. Dann duscht Noemi, trinkt einen Espresso und macht sich schön für die Stadt. "Bis bald!", ruft Noemi im Hinausgehen. Ihre Stimme klingt beschwingt, sogar ein wenig fröhlich. Denkt Dave, schliesst die Augen und prüft seinen Herzschlag, der ihm seit Tagen abhanden zu kommen scheint.
  Eine Stunde später schleppt sich Dave unter die Dusche, lässt den kalten Wasserstrahl über Kopf und Körper fliessen. Hofft, endlich aufzuwachen. Denkt an den Abend vor fünf Jahren, beim Italiener.
  Das Leben fühlte sich damals gut an. Sie waren nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt. Ein weiteres befreundetes Paar hatte sich gerade getrennt. Nur ihre Ehe hielt schon gut zwei Jahrzehnte. Aber war es noch die grosse Liebe? Oder war daraus eine unaufgeregte Freundschaft geworden? Fehlte nicht der Nervenkitzel? An jenem Abend, vor fünf Jahren, beim Italiener, musste der Teufel Dave geritten haben.
   Die Panna Cotta war gegessen, der Grappa getrunken, die Stimmung heiter. Da schlug er Noemi einen Fünfjahresvertrag mit der Option auf Verlängerung vor. Was bei Managern, Fussballtrainern und Festhypotheken üblich, sollte jetzt auch für ihre Ehe gelten: Top oder Flop, weitermachen oder aussteigen. Alle fünf Jahre, beim Italiener, sollte ihre Ehe neu besiegelt werden. Beide Seiten mussten sich anstrengen, sollte der Partner bei der Stange gehalten werden, so das Kalkül.
   Noemi hatte Dave damals mit grossen Augen angeschaut und leer geschluckt. Hat dann doch genickt, wie sie es immer tat, wenn Dave mit einer verrückten Idee daherkam.
   Danach ging es mit Dave abwärts. Wegen schlechter Auftragslage verlor er die Stelle, fand mit grosser Mühe einen neuen Job, landete ganz weit unten, in einer beruflichen Sackgasse. Selbstzweifel nagten, der Schwung war weg.
   Noemi dagegen wurde zur Bürochefin befördert, trieb Sport, besuchte Konzerte, ging mit Freundinnen ins Kino und Theater, war im Leben richtig angekommen.
   Und jetzt ist er da, der Tag der Abrechnung.
Top oder Flop? Dave reserviert kurz vor Mittag beim Italiener den letzten freien Tisch. Wo nur Noemi bleibt? Eigentlich müsste sie schon eine halbe Stunde hier sein. Der Schmerz in Daves Brust ist zurück. Als ob das Herz in einem Schraubstock stecken würde.
   Da stürmt Noemi zur Tür herein, ein Lachen im Gesicht. "Entschuldige, ich habe eine Freundin getroffen, und da haben wir die Zeit vergessen." Worüber sie denn gesprochen hätten, fragt Dave. "Ach, viel Frauenkram." Dafür habe sie Frühlingsrollen vom Take Away mitgebracht. In wenigen Minuten sei das Essen bereit, er solle doch bitte den Tisch aufdecken.
   Noemi findet das Essen fade. Das mache aber nichts. Heute Abend, beim Italiener, sei ja ein Festessen angesagt. Sagts und lacht.
   Das ist das süsseste Lachen in der Stadt, denkt Dave. Und eigentlich ist Noemi in den fünf Jahren keinen Tag älter geworden. "Warum fällt mir das erst heute auf?" murmelt Dave.
   "Was hast du gesagt?" fragt Noemi.
   Er werde nun den Tisch abräumen, stammelt Dave. Danach könnten sie ja noch einen Spaziergang am See machen. "Wie wir das früher so oft getan haben."
   "Tut mir leid, ich habe noch einen Termin beim Coiffeur in der Stadt. Du weisst, das dauert mindestens zwei Stunden."
   Das sei schade, findet Dave. Allein wolle er nicht am See spazieren. Dann werde er noch arbeiten und lesen. Der Schraubstock in seiner Brust ist wieder da, ein heftiges Brennen breitet sich im Körper aus.
   Noemi verabschiedet sich mit einem Küsschen. "In spätestens drei Stunden bin ich zurück, dann ist es Zeit für den Aperitif beim Italiener."
   Dave geht rastlos durch die Wohnung. Den Bürokram und den Bücherstapel mag er nicht anfassen. Er legt sich hin. Die Gedanken beginnen zu kreisen. Wie soll er in seinem Zustand heute Abend die richtigen Worte finden? Warum hat er sich nicht besser vorbereitet? Keine Überraschung, keine Geschenke, keine Blumen, was soll Noemi nur denken? Dave ist übel. Der Bauch beginnt zu schmerzen.
  Dave möchte sich verstecken. Doch hinter jeder Tür lauert die Frage: Top oder Flop? Zu welchem Resultat ist Noemi gekommen? Sie hat Karriere gemacht. Sie ist eine attraktive Frau in den besten Jahren. Das müssen die Männer in der Stadt doch gemerkt haben. Er und Noemi haben einander immer vertraut. Doch in den letzten Wochen ist Noemi selten zu Hause gewesen. Hat sie ihn angelogen? Hat sie einen Freund? Ein Versager wie er könnte ihr dies nicht einmal verargen.
  Das Herz pumpt. Schweiss perlt über das blasse Gesicht.
  Dave schnappt nach Luft. Reisst das Fenster auf. Sein Blick ist getrübt, wie im Nebel. Eine Frau taucht auf. Noemi, am kleinen Tisch beim Italiener. Sie lacht. Hebt das Glas. Schweigt. Weint. Tastet nach der Serviette. Wischt sich eine Träne aus dem linken Auge. Öffnet den Mund. Beginnt zu sprechen. Ganz leise.
  Dave kann nichts verstehen. Leidet Höllenschmerzen. Als ob Elefanten auf seiner Brust tanzten. Noemi verschwindet im Nebel. Dave will schreien. Greift sich ans Herz. Alles dreht.
    Noemi kommt aus der Stadt zurück. Kurzes, grünes Kleid. Schwarz gefärbte Haare, frech zurückgekämmt.
  Noemi sucht Dave. Öffnet die Schlafzimmertür. Ihr Lächeln erstarrt. Sie rennt zum Telefon. Schreit. Wartet. Sirenen im Quartier. Zuerst leise, dann laut, jetzt direkt vor dem Haus. Autotüren knallen. Sanitäter rennen.
  Noemi weint. Ein Paket, mit Geschenkpapier umhüllt, fällt polternd zu Boden.

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