13.02.2013

Clariden

Von Godi Huber
An diesem Spätsommerabend haben wir eine schöne, aber anstrengende Bergtour in den Knochen. Vom Urnerboden herkommend, sind wir in sechs Stunden zur Hütte des Schweizer Alpenclubs SAC hochgestiegen. Tief beeindruckt von der Berglandschaft und dem ewigen Schnee am Tödi, gönnen wir uns bei der Ankunft ein Bier. Danach geniessen wir das einfache, aber überaus bekömmliche Hüttenznacht, − gemischter Salat als Vorspeise, danach Spaghetti Bolognese und eine mit Nidle verfeinerte Stalden Crème. Dazu eine Flasche Rotwein aus dem bündnerischen Malans für uns drei.

Auf dem Tisch liegt das Kartenblatt 1193 vom Tödi. Reto, der erfahrenste Berggänger in unserer kleinen Gruppe, geht mit uns die Route für morgen nochmals durch. Schlüsselstellen werden auf der Karte markiert, ebenso Umkehrpunkte und Alternativrouten. Wir wissen, Berge sind wunderschön, erlauben aber keine Nachlässigkeit.

Eine wohlige Leichtigkeit macht sich nach dem zweiten Glas Malanser im Körper breit. Die Stimmung in der voll besetzten Berghütte ist aufgeräumt, auch weil die Wetterprognose für den nächsten Tag Kaiserwetter ankündet. Die Sonne ist hinter den Bergen verschwunden, der Schatten der Clariden legt sich über den Gletscherfirn.

Nun ist die Zeit der Geschichtenerzähler angebrochen. Ein Ritual, das zu den Berghütten gehört wie das Schnarchen im Massenlager und das Lärmen der Frühaufsteher mit Proviantsäcken und Karabinerhaken. "Nicht jeder, der eine Landkarte studiert, weiss wo Norden und Süden ist", sagt Anna am Nachbartisch lachend. Die junge Bergsteigerin erntet erstaunte Blicke. "Das Fernsehen hat einen Test gemacht", erzählt Anna. Zufällig ausgewählten Menschen in der Stadt habe man eine Karte gezeigt und gefragt, wo der Weg zum Bahnhof durchführe. Diese hätten auf der Karte hilfsbereit und ausführlich den Weg zum Bahnhof erklärt. "Das beweist doch gerade, dass alle Leute wissen, wo Norden und Süden ist", entziehen wir Anna das Wort.
"Habt Geduld, die Pointe habe ich für den Schluss aufgespart."
Anna trinkt einen Schluck Rotwein und geniesst die Kunstpause.
"Den Testpersonen wurden anstelle einer Landkarte die Schnittmusterbogen für Pullover vor die Nase gehalten und die Idioten haben das nicht bemerkt!"
Lautes Lachen erfüllt die Berghütte.

"Wenn ihr alle so tolle Kartenleserinnen und -leser seid, ist euch sicher aufgefallen, dass der Urnerboden zum Kanton Uri gehört, aber jenseits der Wasserscheide im Glarnerland liegt", beginnt Karl in der anderen Ecke der Berghütte eine neue Geschichte zu erzählen.
Einige Hüttengäste nicken.
"Aber kennt jemand hier drinnen den Grund für diesen geografischen Unsinn?", fragt Karl.
Wir schweigen. "Es gibt mehrere Geschichten dazu", sagt Karl, "ich erzähle euch die interessanteste."
"Das Hochtal Urnerboden mit seinen ebenen und fruchtbaren Alpen war schon immer ein begehrtes Stück Land. Die Älpler aus Uri und Glarus stritten sich vor langer Zeit um die fetten Weiden. Damit der Grenzverlauf ein für allemal geklärt war, liessen sich beide Seiten auf eine Wette ein: Je ein Mann sollte von Altdorf und Glarus her so schnell und so weit laufen wie er konnte. Dort wo sich die Männer trafen, wollten sie den Grenzstein platzieren. Das Wettrennen sollte beim ersten Hahnenschrei beginnen.
Beide Seiten waren um Tricks nicht verlegen. Die Urner hielten ihren Gockel vom Fressen fern, in der Hoffnung, er krähe vor lauter Hunger bereits mitten in der Nacht. Die Glarner mästeten ihren Hahn in der Annahme, das Gefühl der Völle lasse ihn gar nicht richtig schlafen."
Bergsteiger Karl schaut auf die Uhr. "Wollt ihr noch heute Abend den Ausgang der Wette hören?"
Natürlich wollen wir.
"Der Urner Hahn krähte vor lauter Hunger schon im Traum. Der Mann in Altdorf rannte los, erreichte bereits bei Sonnenaufgang den Klausenpass und kurz darauf den Urnerboden, den er mit langen Schritten überquerte. Der Glarner Gockel schlief dagegen bis weit in den Morgen. So kam es, dass das ganze Hochtal diesseits des Passes in die Hände der Urner fiel."
Karl erntet ein Lachen und Applaus für seine Geschichte.

Nur einer schweigt. Hans, ein alter Bergler mit zerfurchtem Gesicht, grauen Haaren und Vollbart, sitzt etwas abseits allein an einem Tisch. Mit leiser Stimme beginnt er zu sprechen.
"Ich weiss euch eine Geschichte aus diesem Tal, die ihr noch nicht im Fernsehen gesehen habt und auch nicht bei Wikipedia nachlesen könnt. Es ist eine Geschichte, die ich selber erlebt habe und nie vergessen werde."
Hans, einem Muotataler Wetterschmöcker ähnlich, sucht einen Augenblick nach den richtigen Worten.
"Fast ein halbes Jahrhundert ist es her. Ich war jung, ungestüm und auch ein wenig unvorsichtig. Ich war an jenem Tag ungewöhnlich spät dran. Der Nachmittag war bereits angebrochen und ich musste auf dem kürzesten Weg vom Claridenfirn auf den Urnerboden gelangen. Vor dem Abstieg hatte ich einen nicht ungefährlichen Bergkamm zu überwinden.
Im steilen Aufstieg passierte es. Wolken türmten sich, der Wind wurde zum Sturm, Blitze zischten, Donner krachte, Hagel prasselte auf meinen Körper. Ich duckte mich hinter die Felsen und wusste nicht mehr, wo oben und unten war. So musste sich der Weltuntergang anfühlen. Ich betete, mindestens eine halbe Stunde. Dann zog die Gewitterwolke endlich weiter. Doch der Nebel blieb, dick und zäh. Ich sah meine Hand vor den Augen nicht. Karte und Kompass waren nutzlos. So kroch ich auf allen vieren in die Richtung, die mir die richtige schien, darauf hoffend, nicht in einen der zahlreichen Abgründe zu stürzen.
Eine weitere halbe Stunde musste vergangen sein, da stand plötzlich ein kleines, schwarzes Männlein direkt über mir. Trotz nach wie vor dichtem Nebel konnte ich sehen, wie die hässliche dunkle Gestalt durch den fast senkrechten Fels mühelos zu mir hinabstieg.
'Kann ich dir helfen? ' fragte das Männlein mit knarrender Stimme. 'Ich, ich h ... abe m ... ich ver ... irrt', muss ich gesagt haben.
Das Männlein lächelte. 'Du bist nicht der erste, der an dieser Stelle vom Weg abgekommen ist. Ich kenne hier jeden Stein. Wenn du willst, zeige ich dir den Weg'.
Bei mir hatte sich der erste Schreck gelegt und ich begann zu ahnen, dass mir das Männlein nicht ohne Gegenleistung helfen wird.
'Du brauchst keine Angst zu haben', schien die dunkle Gestalt meine Gedanken zu erraten.
'Ich helfe dir, wenn du von nun an die Geschichte unserer Begegnung weiter erzählst. Als Warnung für andere Bergsteiger, im Fels nicht leichtsinnig Kopf und Kragen zu riskieren'."
In der Hütte ist es still, man hört das leise Ticken der Uhr an der Wand. Bergsteiger Hans blickt auf diese Uhr.
"Eine Geschichte ist erst dann eine gute Geschichte, wenn sie zu Ende erzählt ist", fordern wir den Schluss ein.
Hans lächelt. "Da gibt es nicht mehr viel zu erzählen. Das Männlein führte mich durch den Nebel sicher auf den Urnerboden. Ich wurde ein vorsichtiger Bergsteiger, bin den direkten Weg vom Claridenfirn auf den Urnerboden nicht mehr gegangen und auch dem schwarzen Männlein nie mehr begegnet. Erschrocken bin ich einige Jahre später, als die Landestopgrafie dem unwegsamen Gelände einen Namen gab."
Der alte Mann zeigt mit dem Finger auf den rot eingekreisten Punkt auf seiner Karte.
Tüfelsjoch!

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