24.12.2013

Weihnachtsgeschichte − ohne Titel

Von Godi Huber
Ich heisse Sabrina. Und ich bin nichts Besonderes. Braune Haare, gelockt, blaue Augen, immer ein Lachen im Gesicht. Die Menschen finden, ich sei eine lustige Nudel.


Seit Anfang Dezember hänge ich an einem seidenen Faden in diesem Delikatessengeschäft. 30 Zentimeter lang, drei Zentimeter dick, 100 Gramm schwer, gestanzt aus verzinktem Blech. Das schönste an mir ist das lange grüne Kleid mit dem grossen aufgestickten Weihnachtsstern. Wo die Menschen Arme haben, sind bei mir Flügel gewachsen. Und über mir schwebt ein rundes gelbes Etwas, die Menschen nennen es ehrfürchtig Heiligenschein.

Richtig, ich bin ein Engel, ein Weihnachtsengel. Ich warte darauf, dass mich eine Kundin oder ein Kunde kauft und in schönes Geschenkpapier einpacken lässt. Ich wünsche mir sehr, unter einen Tannenbaum gelegt zu werden. Ich sehne mich nach Kerzenschein, leuchtenden Kinderaugen und Blockflötenmusik.

Am zweiten Advent wäre es fast soweit gewesen. Ein unglücklich scheinender Mann suchte nach einem Geschenk für seine neue Freundin. Mit dabei war die Tochter aus erster Ehe, verwöhnt und ebenso unglücklich wie ihr Vater. Die Tochter wollte mich unbedingt haben. Der Vater verdrehte die Augen und sagte: "Entweder das neue Samsung Galaxi XP 5345 mit Highspeed Chatroom und doppelgeschaltetem Turbo-Wireless-Adapter − oder dieser Engel." Das Mädchen verdrehte wie der Vater die Augen und entschied sich für das neue Samsung Galaxi XP 5345 mit Highspeed Chatroom und doppelgeschaltetem Turbo-Wireless-Adapter.

Die Menschen kaufen in unserem Delikatessengeschäft Säcke voll Tartufi dolci, Panettone alla Crema di Grappa, Limoncello di Napoli, Trüffelsalami, Olivenöl mit Erdbeerschaum, Spaghetti, Fusili, Rigattoni Nonna oder Steinpilzrisotto. Sie scheinen dabei vergessen zu haben, warum sie all dies kaufen und dass eigentlich die Zeit der Weihnachtsengel angebrochen wäre. Gestern habe ich beobachtet, wie eine junge Frau den Steinpilzrisotto, das Olivenöl mit Erdbeerschaum und die Tartufi dolci diskret in ihrer Tasche verschwinden liess. Ich wollte schreien: "Haltet die Diebin!" Doch ich brachte keinen Ton heraus. Einen Moment hat mich die Ladendiebin sogar angelächelt, ich zitterte vor Angst. Erst als die Frau unser Delikatessengeschäft ohne zu zahlen verlassen hatte, atmete ich erleichtert auf.

Heute ist der 24. Dezember. In einer Stunde ist Ladenschluss. Ein edel gekleideter Geschäftsmann rennt soeben zur Tür herein, hält gehetzt nach einem Schnäppchen Ausschau. Sein prüfender Blick schweift über die Panettone und fällt auf mich. Mein Herz klopft schneller. Der Mann mustert das Preisetikett, verhandelt mit der Verkäuferin über einen Rabatt. Die Verkäuferin schüttelt den Kopf. Der Mann verlässt unser Delikatessengeschäft so schnell, wie er gekommen ist.

Jetzt bin ich sicher, dass ich den Heiligen Abend hier verbringen werde. Und je länger ich darüber nachdenke, desto fröhlicher werde ich. Lieber als mit quengelnden Wohlstandskindern, Ladendieben und Schnäppchenjägern feiere ich Weihnachten als Restposten in unserem Delikatessengeschäft. Zusammen mit der übrig gebliebenen Trüffelsalami, dem Resten Panettone und dem Steinpilzrisotto im Regal direkt neben mir werde ich laut singen − Stille Nacht, Helige Nacht!

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