22.11.2012

Panikattacke

Von Helen Käser

Eigentlich war das Gartenhaus abgeschlossen, nicht zur freien Verfügung für Mieter dieser Ferienvilla. Aber dann suchte er doch den Schlüssel, denn er fand nirgends ein Verlängerungskabel, um den elektrischen Grill anschliessen zu können. Besser hätte er das saftige Rindfleisch in der Bratpfanne zubereitet. Dann wäre ihm jetzt wohler, seine angenehme Ferienentspannung hätte sich nicht jäh aufgelöst.

  Er sass also entspannt auf einem Stuhl vor dem schmucken Gartenhäuschen und grillte das Fleisch, als seine Gattin einen Blick in das den Mietern sonst verschlossene Häuschen warf. Sie sah die vielen Sitzpolster und entschied sich, eines davon nach draussen zu nehmen, um ihren Säugling im Schatten einer Korkeiche darauf zu legen. Sie hob das Kissen hoch, stockte in ihrer Bewegung und unterdrückte einen Schrei des Entsetzens. Unter dem Kissen lag in Ruhepose eine kleine Schlange. Im ersten Moment dachte sie, es sei eine Blindschleiche, wie sie sie zu Hause gelegentlich mal in ihrem Komposthaufen entdeckte. Sie holte den 4-jährigen Sohn, um ihm diesen grossen Wurm zu zeigen, doch das Reptil ringelte den hinteren Teil seines Körpers zusammen, in der Form eines Schneckenhauses und richtete sich vorne auf. Es machte Drohgebärden, wippte vor und zurück und unterstrich diese Gesten mit blitzschnellem aber anhaltendem Züngeln.
  Der Kleine sprach das Wort "Schlange" als erster aus, worauf der Vater sich so schnell vom Stuhl erhob, dass dieser nach hinten kippte. Er kam ins Häuschen, stiess beim Anblick des Reptils einen Schrei aus, packte seinen Sohn und verliess mit ihm in aller Eile den Ort des Schreckens. Seine beiden jüngeren Brüder konnten seine Panik nicht nachvollziehen, doch sie wussten, dass in dieser Situation alle vernünftigen Argumente vergeblich waren. Als sie die Schweissperlen auf der Oberlippe ihres Bruders und seine Angst in den weit aufgerissenen Augen sahen, wussten sie, dass es nur eine Möglichkeit gab, um die Ferien weiterhin einigermassen unbekümmert geniessen zu können. Sie mussten die junge Schlange töten, bevor sie Schaden anrichten konnte. Sie taten es für ihren Bruder, der ihnen sonst in fast jeder Lebenssituation eine Stütze war.
  Beim Essen verspürten sie die leichte Anspannung dessen, was vor der Mahlzeit geschah. Doch der folgende Tag verlief wieder in ungetrübter Freude. Die Familie fuhr mit dem Auto zum Strand, schwamm im klaren erfrischenden Meerwasser. Der Vater baute mit seinem Jungen eine eindrückliche Sandburg und suchte später Muscheln in all dem Unrat, das das Meer angespült hatte.
  Zwei Tage später war der Vorfall schon fast vergessen.
  Ein weiterer Grillabend war angesagt. Der Mann spürte die Hitze in sich aufsteigen, als er das Gartenhaus aufschloss, um das Kabel einzustecken. Er verspürte dabei ein undefinierbares Unbehagen.
  Das Fleisch verbreitete bereits einen angenehmen Duft, als der Sohn aus dem Gartenhaus rief : "Papi, da ist wieder eine Schlange!" Der Angesprochene hastete zum Kleinen, hob ihn hoch und rannte laut schreiend weg vom Panikherd. Seine Schultern zitterten, der Rest des Körpers verharrte in einer Steifigkeit, die ihm beinahe den Atem nahm. Seine Frau ging zu ihm, versuchte ihm zuzureden, doch die Worte prallten an seinem Körper, der in einem Panzer zu stecken schien, ab. Nach der ersten Anspannung verfiel er in eine unverständliche Rastlosigkeit, lief hin und her, ohne Ziel, ohne Plan. Sofort eilten die Brüder herbei, taten, was nicht zu vermeiden war, doch sie entdeckten eine dritte, eine vierte Schlange. Schlussendlich schlossen sie das Gartenhaus ab und verwahrten den Schlüssel an einem geheimen Platz, bis zur Übergabe des Hauses.
  Der Vater wartete von diesem Ereignis an ungeduldig auf seine Heimkehr, denn das, was der Schreck hinterlassen hatte, konnte er in den folgenden Tagen nicht mehr ablegen. Überall spürte er Gefahr. Er hob jedes Kissen, bevor er sich setzte, kontrollierte die Kleiderstapel im Schrank, zuckte zusammen, wenn ein Kabel oder ein Holzstab am Boden lag. Er ging bewusst nicht durch hohes Gras und mied die Nähe von Büschen und Sträuchern. Er wollte keine Zeitschriften ansehen, denn die Angst, ein Bild seines Erzfeindes zu sehen, war allzu gross.
  Die Schlange war tot, aber ihre Macht war ungebrochen.

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