24.12.2011

Der Schneemann

Von Godi Huber

Die Kurzgeschichte "Der Schneemann" wurde als Adventskalendergeschichte vom 1. bis 24. Dezember 2011 geschrieben und publiziert.
#1_24: Es war gestern, im Zug auf der Fahrt von hier nach dort. Spät abends, ein alter Mann setzt sich zu uns ins Abteil. Knorriges Gesicht, buschiger Bart, breiter Hut, tief ins Gesicht gezogen. Die Zeitungen sind ausgelesen, Blicke aus dem Fenster. Der Fahrtwind lässt ersten Schnee herumwirbeln. Es werde ein langer und harter Winter, bricht der Mann das Schweigen. Ein Wort gibt das nächste. Im Import-Export habe er nicht wenig Geld verdient, erfahren wir wenig später. Jetzt arbeite er nicht mehr. "Heute erzähle ich Geschichten", sagt der Mann im Zug. #2_24: Ein Geschichtenerzähler, der aussieht wie in Muotataler Wetterfrosch, denken wir. Draussen tobt, ungewöhnlich für Anfang Dezember, ein Schneesturm. Den Hut hat der Mann auf der Gepäckablage deponiert. Das Gesicht wirkt jetzt freundlich und entspannt. Ob er uns eine Geschichte erzählen dürfe? Eine kurze Geschichte, die er vor langer Zeit erlebt hatte. Wir nicken und warten, während der Zug einen Bahnhof passiert. #3_24: Der Mann im Zug schliesst die Augen. Mehrere Minuten sucht er tief im Kopf nach Erinnerungen. Zum Verständnis müsse er vorausschicken, sagt er dann, dass er irgendwo an einem Ende der Welt aufgewachsen sei. Zwei Stunden zu Fuss durch einen stotzigen Graben habe gehen müssen, wer dem Heimet einen Besuch abstatten wollte. Sie hätten damit ihre Ruhe gehabt. Vor allem im Winter seien sie Tage oder Wochen von der Aussenwelt abgeschnitten gewesen. In einem dieser Winter habe sich diese Geschichte zugetragen. #4_24: Drei Tage, drei Nächte und danach noch einmal einen Tag und eine Nacht habe es am Anfang des Winters gestürmt. Zuerst seien Blitz und Donner niedergegangen, dann Schnee, immer mehr Schnee. Am nächsten Morgen, ganz in der Frühe, sei er draussen am Waldrand gestanden: Der Schneemann. #5_24: Der Zug fährt in die Nacht. Der Mann erzählt von fünf Geschwistern, drei Kühen, Gemüse an den steilen Hängen und dem kargen Lohn eines Waldarbeiters, der für die ganze Familie reichen musste. Der Mann im Zug scheint das Heute zu vergessen, in die Welt von damals einzutauchen: Der Schnee liegt an diesem Tag so tief, sagt er, dass wir den Schneemann vorerst nur vom Stubenfenster aus beobachten können. Aber wir glauben, auch auf Distanz zu erkennen, dass es sich um einen besonderen Schneemann handeln muss. #6_24: Am nächsten Tag sitzt die ganze Familie vor dem Radio. Beromünster sendet, wie Sämi aus dem Schachen nebenan zum Bundesrat gewählt wird. Der Samichlaus steckt Äpfel, Birnen und Nüsse in unsere Stiefel. Wir sind glückliche Kinder, mit roten Backen und vollen Bäuchen. Dass der Schneemann mit traurigen Augen durchs Fenster in die warme Stube blickt, übersehen wir an diesem Abend. #7_24: Der neue Tag erwacht. Schon vor dem Frühstück wird klar – der Platz draussen am Wald ist leer. Verjagt von den Chläusen, muss er in der Nacht das Weite gesucht haben. Wir kämpfen uns durch den Schnee, der fast bis zu den Zipfelmützen reicht. Finden Spuren, von riesigen Füssen, die direkt in den Wald führen. Zwischen den dicken Tannen entdecken wir den runden Mann aus Schnee. Dort angekommen, blinzelt er hinter den Birken hervor. Eine Stunde dauert das Versteckspiel. Dann stehen wir uns gegenüber. Hier der riesige Mann aus Schnee, wenige Meter davor wir, klein und verlegen wie zipfelbemützte Gartenzwerge. #8_24: Was würdest Du tun, wenn es überall Schnee hat und ein Schneemann, gross wie der Yeti, steht vor dir? Wir greifen mit unseren kleinen Händen in den Schnee und formen diesen zu Schneebällen. Dann eröffnen wir, wie David in der Sonntagsschule, das Feuer auf Goliath. Der Mann aus Schnee muss das lustig finden. Sekunden später prasseln Schneebälle so gross wie Lawinen auf uns nieder. Wir finden das weniger schön und schwenken zur Kapitulation heftig ein nicht mehr weisses Taschentuch. #9_24: Ich habe vorher und nachher nie einen Schneemann reden hören. Doch unser Mann aus Schnee spricht, mit tiefer und lauter Stimme, in einer Sprache, die für uns neu ist und die wir trotzdem verstehen. Eine Art Geheimsprache für Schneemänner und Schneekinder, wie wir es sind. „Ihr könnt mich Alibaba nennen“, sagt er. „Und wer seid ihr?“ „Mir si d Chind vom Tannegrabewald“, antworten wir keck. Sein Lachen weckt die Raben auf den Tannen und lässt sie verwirrt aufflattern. #10_24: „Warum heisst du Alibaba?“, fragen wir. „So wurde ich in Afrika genannt“, sagt der Mann aus Schnee. Afrika? Für uns ist klar, Alibaba lügt. „Ich habe einen Winter lang in Marokko im Atlas-Gebirge gelebt. Das Land ist wunderschön und in den Bergen hat es viel Schnee.“ Uns verschlägt es die Sprache. „Die Kinder dort besassen nichts, nicht einmal Winterschuhe“, fährt der Schneemann fort. „Doch sie waren mit Zeit, Phantasie und Freude gesegnet“, so der Schneemann. „Wir waren die besten Freunde, einen kurzen Winter lang.“ #11_24: Jeden Winter erlebe er an einem anderen Ort auf der Erde, sagt der Mann aus Schnee. Letzten Winter, so Alibaba, sei er in einem reichen Land in einer reichen Stadt im Vorgarten einer reichen Familie gelandet. „Die haben mir ein Halstuch aus feinster Kaschmirwolle umgehängt.“ „Und die reichen Kinder?“, fragen wir. „Die hatten einen Butler, eine Lehrerin, einen Fitnesstrainer und an jedem Handgelenk drei teure Uhren. Nur die Zeit, um mit einem Schneemann zu spielen, hat ihnen gefehlt.“ #12_24: Wir Kinder vom Tannegrabewald sind arm, haben aber viel Zeit. Jeden Tag zieht es uns hinaus zu Alibaba, lauschen seinen Geschichten aus anderen Welten. So auch dieser: Weil Schneemänner gut schweigen können, werden ihnen Geheimnisse anvertraut. In Sibirien, erzählt Alibaba, habe ihm eine einsame alte Frau eine schreckliche Geschichte erzählt. Im Garten unter der Erde liege seit zwanzig Jahren ihr Mann. Sie habe ihn totgeschlagen, bevor er sie, getrieben von Alkohol und Wahn, habe totschlagen können. Doch ihr Mann verfolge sie am Tag und nehme ihr in der Nacht den Schlaf. „Die Frau musste die Geschichte endlich weitergeben, an mich, den Schneemann, der schweigen und das Geheimnis im Frühling für immer mitnehmen wird.“ #13_24: „Träumst du in der Nacht?“, fragen wir den Mann aus Schnee. „Natürlich haben Schneemänner Träume“, antwortet Alibaba. Vor kurzem habe er von einem Zauberstab geträumt, den er im Wald gefunden hat. „Ich habe den Zauberstab genommen und drauflos gezaubert“, sagt Alibaba. Wir wollen wissen, was Schneemänner zaubern, wenn sie einen Zauberstab finden. „Ich habe den Frühling herbeigezaubert, mit grünen Bäumen und farbigen Blumen. Dann den Sommer mit einem See und viel blauem Wasser. Kurz darauf den Herbst mit lachenden Kindern und fliegenden Drachen.“ #14_24: Weihnachten rückt näher. Der Mann aus Schnee wird schweigsamer. Weil wir inzwischen richtige Freunde geworden sind, fragen wir, was ihn bedrückt. Alibaba antwortet nicht und wird an diesem Tag immer trauriger. Am Abend schliesslich beginnt er zu sprechen. Gelegentlich, sagt der Schneemann, fehle ihm eine Frau. „Eine Schneefrau, mit der ich Freuden und Sorgen teile, mit der ich lache und weine, mich streite und versöhne, träume.“ #15_24: Noch knapp zwei Wochen bis Weihnachten. Über dem Mittelmeer baut sich ein Hoch auf, in den Alpen beginnt der Föhn zu blasen. Uns interessiert das nicht. Eine Schneefrau muss her. Doch gibt es überhaupt Schneefrauen? In Büchern, die wir kennen, kommen immer nur Schneemänner vor. Egal. Wir schaufeln einen ganzen Tag wie verrückt, bis wir eine Schneefrau gebaut haben, die fast ebenso gross und noch viel schöner als unser Schneemann ist. #16_24: Der blaue Himmel und die warmen Temperaturen lassen Frühlingsgefühle aufkommen. Der Schneemann findet die Schneefrau wunderschön, die Schneefrau scheint vom Schneemann angetan. Liebe auf den ersten Blick, würden wir Menschen sagen. Eine Liebesgeschichte im Advent? Eine Adventskalender-Liebesgeschichte im Tannegrabewald, neun Tage vor Weihnachten? #17_24: Liebe ist, wenn der Schneemann seiner Schneefrau eine Hochzeitsreise an den Südpol schenkt. Liebe ist, wenn die Schneefrau dem Schneemann ... Wir Kinder im Tannegrabewald sind derweil in der Küche beschäftigt. Schlüferli, Brätzeli und Mailänderli sollen Weihnachten versüssen. Heimlich zweigen wir zwei Portionen ab. Radio Beromünster kündigt Westwindwetter und einen Wintersturm an. Noch ist der Himmel sternenklar, der Schnee glitzert im Mondlicht. #18_24: Am Morgen danach erzählen der Schneemann und seine Schneefrau vom glitzernden Schnee und leuchtenden Sternen. Eine Sternschnuppe sei unmittelbar hinter dem Tannegrabewald vom Himmel gefallen. Sie hätten die Augen geschlossen und gemeinsam nachgedacht. Ein einziger Wunsch sei ihnen dabei eingefallen. „Wir wünschen uns, Weihnachten zusammen mit unseren liebsten Freunden unter dem Tannenbaum feiern zu dürfen“, sagt Alibaba, unser Freund aus Schnee. #19_24: Am Abend bläst der Wind stark wie ein Orkan, biegt die Tannen, rüttelt an den Fenstern und pfeift durch die Ritzen der Holzbalken; Blitze und Donner über dem Tannegrabewald. Das Prasseln des Regens auf dem Dach und das Rauschen des Bachs hält uns fast die ganze Nacht wach. In Gedanken sind wir draussen bei Alibaba und seiner Schneefrau. Wir liessen die beiden ohne Schutz im Sturm stehen. Und das Halstuch aus Schafwolle haben wir als Weihnachtsgeschenk eingepackt. #20_24: Wenn wir Menschen uns erkälten, ist das furchtbar. Wir husten, schneuzen, trinken Unmengen Tee, legen uns ins Bett und gehen zum Arzt. Noch viel schlimmer ist, wenn sich Schneemänner und Schneefrauen erkälten. Sie stehen wortlos da, ohne Tee, Bett und Arzt, dem Sturm und Regen ausgesetzt, vom Fieber geplagt. Am nächsten Morgen müssen wir Alibaba und seine Schneefrau suchen. Nur noch halb so gross und in erbärmlichem Zustand stehen sie unter den zerzausten Bäumen des Tannegrabewaldes. #21_24: „Macht euch keine Sorgen, wir kommen bis Weihnachten wieder auf die Beine“, sagt der Mann aus Schnee. Und fügt mit ungewohnt dünner Stimme an: „Wir freuen uns auf den Heiligen Abend in der warmen Stube unter dem Weihnachtsbaum.“ Vater holt an diesem Tag die Axt aus dem Stall, geht mit uns in den Wald, von Tannenbaum zu Tannenbaum, bis wir den schönsten gefunden haben. Am Abend ist die Stimmung vorweihnächtlich schön. Wir getrauen uns endlich, die Frage zu stellen, die uns seit Tagen auf der Zunge liegt: „Dürfen der Schneemann und die Schneefrau bei uns in der Stube Weihnachten feiern?“ #22_24: Einen Augenblick lang schwebt die Frage im Raum, scheint sich im Nichts aufzulösen. Da beginnt Vater mit ruhiger, aber bestimmter Stimme zu sprechen: „Wir haben gemerkt, dass euch der Schneemann ein lieber Freund geworden ist. Und ich weiss, dass man guten Freunden den grössten Wunsch nicht ausschlagen darf. Unsere Stube ist aber zu klein und zu warm. Der Schneemann und die Schneefrau wären nicht glücklich und Mutter müsste den nächsten Tag mit Putzen verbringen.“ #23_24: Wir sind es nicht gewohnt, Vater zu widersprechen. Doch der Tag vor dem Heiligen Abend ist für uns alle ein schlechter Tag. Wir gehen uns aus dem Weg und meiden ausnahmsweise auch den Mann aus Schnee. Niemand will Überbringer der schlechten Nachricht sein. Derweil zerbricht sich unser Freund aus Schnee draussen am Waldrand den Kopf, welches Geschenk er uns unter den Weihnachtsbaum legen will. Am Abend halten wir es nicht mehr aus. Morgen ist Heiliger Abend und irgendetwas muss passieren! #24_24: Fast eine Stunde hat der alte Mann im Zug ohne Unterbruch die Geschichte vom Schneemann im Tannegrabewald erzählt. Olten und Bern haben wir längst hinter uns gelassen, Genf scheint nicht mehr weit zu sein. Nun sucht der Mann, müde geworden, nach dem Ende der Geschichte. „Wir haben diesen Heiligen Abend dann tatsächlich zusammen mit dem Freund aus Schnee gefeiert“, erzählt der alte Mann weiter. „Nicht drinnen in der warmen Stube, aber draussen im Wald. Die ganze Familie, es war der schönste Heilige Abend, den ich erlebt habe. Das Feuer, die Kerzen, der Weihnachtsbaum mit den bunten Kugeln und den süssen Lebkuchen, der heisse Kakao, die Sterne, die Stille der Nacht, die Freude des Schneemannes und der Schneefrau und das Paket mit dem selber gestrickten, roten Halstuch machten diesen Abend unvergesslich.“ Die Lautsprecherstimme im Zug kündigt die Ankunft in Genf an. Die ersten Passagiere erheben sich von den Sitzen. „Bleibt noch einen Augenblick“, sagt der alte Mann, „die Geschichte ist noch nicht ganz zu Ende erzählt: In der gleichen Nacht sind sich der Föhn aus Süden und ein Sturmtief aus Westen über dem Tannegrabewald in die Haare geraten. Die beiden haben während Stunden gewütet, hundert Jahre alte Tannen zu Fall gebracht und das Bächlein hinter dem Haus in einen reissenden Fluss verwandelt. Am nächsten Morgen stand der Sieger fest: das Hoch über der Biskaya sorgte für blauen Himmel und einen wunderschönen Sonnenaufgang. Doch der Winter war vollständig aus dem Tannegrabewald vertrieben, von den Stürmen weggeblasen und fortgeschwemmt. Mit ihm unser Freund aus Schnee. Zurückgelassen hatte er, als letzten Gruss, das rote Halstuch.“ – Dies sei sie gewesen, die Geschichte vom Freund aus Schnee im Tannegrabewald, schliesst der Mann im Zug seine Erzählung. Eine unspektakuläre Geschichte für die heutige Katastrophengesellschaft, entschuldigt er sich. Unvergesslich aber für die Kinder im Tannegrabewald. Beim Verlassen des Zuges fällt uns auf, dass der alte Mann unter der Winterjacke ein abgetragenes, rotes Halstuch trägt. (hug)

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